Freiwillig vor!

MENSCHEN - DAS MAGAZIN, 1/2011

2011 ist dass "Europäische Jahr der Freiwilligentätigkeit". Die Diskussionen um das wichtige gemeinnützige Bürger-Engagement, ohne das viele Institutionen nicht bestehen könnten, sind groß: Welche Aufgaben muss der Staat übernehmen? Welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit sich Bürger ehrenamtlich engagieren? Und was kann ihnen zugemutet werden?

     Man kann sich die Szene lebhaft vorstellen: Auf der einen Seite die verbeamtete Denkmalschützerin, die eifrig erklärt, was zu tun und zu lassen ist, auf der anderen Seite der hagere, Zigarillo rauchende Joachim Uffelmann, dessen Gesicht von Minute zu Minute etwas mehr versteinert, bis ihm schließlich der Kragen platzt. „Irgendwann hat’s mit gereicht, da habe ich die Dame rausgeworfen“, sagt der 68-Jährige, während er über die fleckige Schreibtischplatte hinüber zum Aschenbecher langt. „Erst lassen sie das Bad verrotten, und wenn die Bürger einspringen, haben sie nichts Besseres zu tun, als ihnen Vorschriften zu machen.“

   Von welcher Behörde sie auch immer kommen, bei den Betreibern des Baerwaldbads im Berliner Bezirk Kreuzberg haben die Amtsvertreter einen schweren Stand. Die Wut darüber, dass der Senat das 1901 eröffnete „Volksbad“ vor zehn Jahren aus Spargründen schließen wollte, ist noch immer nicht verraucht. Weil die Bürger nicht wollten, dass die Kinder des Viertels zum Schwimmen durch die Stadt fahren müssen, haben sie das Bad von der Stadt gepachtet und dem eigens dafür gegründeten Verein „Tauchen, Schwimmen, Breitensport e.V.“ (TSB) unterstellt. 140.000 ehrenamtliche Arbeitsstunden fallen seitdem Jahr für Jahr an. Dafür wollen die rund dreißig Freiwilligen vom Land freie Hand.

    In Zeiten leerer Kassen und gesperrter Haushalte ist das ehrenamtliche Engagement eine Art neue Währung geworden. Nicht nur Freiwillige Feuerwehren und Sportvereine werden so betrieben. Auch viele andere vermeintlich öffentliche Aufgaben gehen in die Hände von Bürgern über. Dabei greifen sie manchmal freudig, oft aber auch mit einem unguten Gefühl zu. Muss das nicht der Staat machen? Werden wir ausgenutzt? Wo verläuft die Grenze?

     Tatsächlich ist die Frage, was des Staates und was des Bürgers ist, erstaunlich wenig geregelt. Sicher ist, dass Bund, Länder und Kommunen im Laufe der letzten Jahrzehnte immer mehr Aufgaben übernommen haben, die früher von Familienangehörigen und Nachbarn geleistet wurden oder die es schlichtweg gar nicht gab. Der Vorteil daran ist, dass die Aufgaben verlässlich erledigt werden und dass das Angebot allen zur Verfügung steht. Der Nachteil besteht darin, dass die Bürger bei der Ausgestaltung dieser Aufgaben kaum mitreden können. Und dass alles bezahlt werden muss.

    Das Baerwaldbad kostet den TSB im Jahr eine halbe Million Euro. Dabei sind die 140.000 ehrenamtlichen Arbeitsstunden nicht eingerechnet. Noch hat Joachim Uffelmann, der bis vor ein paar Jahren ein Unternehmen mit 500 Mitarbeitern hatte und dem TSB vorsitzt, kein Problem damit, Ehrenamtliche zu finden. Insgesamt 40 Freiwillige stehen auf seiner Liste, davon gehört die Hälfte dem „festen Stamm“ an. Andererseits weiß man nie. Bekommt jemand Rückenprobleme, muss er in der Familie mehr Aufgaben übernehmen, stehen bei der Arbeit Überstunden an, kann es schnell eng werden.

    Der TSB versucht daher die Einnahmen zu steigern, um ein paar der ehrenamtlichen Aufgaben auf Dauer gegen Bezahlung abgeben zu können. Dazu gehört auch, dass der Verein Räume an andere Sportanbieter vermietet. Das ehemalige Wannen- und Brausebad ist deshalb zu einem Gymnastikraum mit Spiegeln und hellem Holzparkett umgebaut worden. 250 Lieferwagenladungen haben die Helfer bei der Renovierung abtransportiert. Ein Bild, das perfekt zum „Ehrenamtlichen als Ausputzer“ passt. Andererseits beflügelt die ehrenamtliche Arbeit auch: Hat der TSB eine gute Idee, setzt er sie um. Das fängt an beim „Muslimisches Frauenschwimmen“ und endet bei der Renovierung der Jugendstil-Schwimmhalle durch Jugendliche. „Wir zeigen, dass es funktioniert“, sagt Joachim Uffelmann.

       Die Aussage des TSB-Vorsitzenden trifft auf viele ehreamtliche Projekte zu. Wenn Bürger öffentliche Aufgaben übernehmen, handeln sie oft mutiger und sind kreativer und schneller, als die Mitarbeiter von Ämtern und Behörden. Im Idealfall stachelt es die Behörden und Politiker dazu an, die Sachen selbst wieder mit mehr Elan anzugehen. Im schlechten Fall macht es sich die Staats- und Volksvertreter bequem. Dann bedienen sie sich der Ehrenamtlichen, nach dem Motto: „Die werden’s schon richten.“

     Der Soziologe Stefan Selke sieht diesen Effekt bei einigen der Tafeln erfüllt, die Lebensmittel an Bedürftige verteilen. Während eines einjährigen Forschungsprojekts, aus dem das Buch „Fast ganz unten. Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wir“ hervorging, stellte der Wissenschaftler der Hochschule Furtwangen fest, dass manche Hartz IV-Empfänger von den Ämtern Flyer mit Wegbeschreibungen zu den Tafeln ausgehändigt bekamen. Andere Städte übernehmen Raummieten und Kfz-Steuern. Die sachsen-anhaltinische Landeshauptstadt Magdeburg sorgte sogar selbst für die Gründung einer Tafel. „Mit minimalem Einsatz wird auf Kosten von Bedürftigen und Ehrenamtlichen extrem viel gespart“, kritisiert der Soziologe.

    Aber auch die „Asymmetrie“ zwischen Helfern und Nutzern finde Stefan Selke problematisch. Während die Tafel für die Ehrenamtlichen ein Ort sei, der ihnen Sinn, Struktur und oft auch Glücksgefühle verschafft, sei er für die anderen ein Ort, an dem ihr Unglück besonders offen zutage tritt. Dieses Gefälle entstehe bei der Hilfe durch den Staat nicht, gibt der Forscher zu bedenken.  Sein Fazit: „Man kommt als Ehrenamtlicher nicht umhin, über Werte und gesellschaftliche Entwürfe zu reden.“

    Eine solche Diskussion erfordert allerdings Zeit und Ruhe – und genau die fehlen den Ehrenamtlichen meist. Die Berliner Ärztin Adelheid Franz hat es nicht mal geschafft, den Blumenstrauß, den ihr eine Patientin als Dank für ihre Hilfe geschenkt hat, aus der Geschenkfolie zu nehmen. Welk hängen die Blumen auf dem Fensterbrett in einer Vase, während Adelheid Franz zwischen Schreibtisch und Aktenregal klemmt und sich immer wieder die Brille in die Stirn schiebt und die Augen reibt.

    Die kleine Frau mit den grau-braunen Locken hat vor knapp zehn Jahren in Berlin die „Malteser Migranten Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung“ aufgebaut. Fing es mit drei Stunden pro Woche an, arbeitet sie inzwischen drei volle Tage in ihrem Ehrenamt. Auch der Helferstamm hat sich stark ausgeweitet. Elf Mediziner und eine Physiotherapeutin wechseln sich in den winzigen Sprechzimmern, die in einem ehemaligen Schwesterwohnheim eingerichtet sind, heute ab. Dazu kommt ein Netz von 200 Fachärzten in Kliniken und Praxen, die bei Bedarf kostenlos operieren und Kinder auf die Welt holen.

    Viele von ihnen hat Adelheid Franz direkt angesprochen. Dabei hat sie festgestellt, „dass man jemandem noch so sehr mit Engelszungen zureden kann, wenn er kein Faible dafür hat, wird er es nicht machen“. Dieser Eigensinn der Bürger zeigt sich auch in der ehrenamtlichen Arbeit selbst. Wie man sicherstellt, dass die freiwilligen Helfer bei der Stange bleiben und genau das tun, was sie sollen, ist in vielen Vereinen und Verbänden ein zentrales und auch heikles Thema. Auch die Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamtlichen birgt reichlich Konfliktstoff. Wer unentgeltlich arbeitet, erwartet als Gegenleistung, dass er sein Amt so gestalten kann, wie er es für richtig hält. Einen Chef, der Anweisungen erteilt, will man im Ehrenamt gerade nicht.

    Der Sozialwissenschaftler Rudolph Speth, der Mitglied der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des Bundestags war, glaubt daher, dass es beim Einsatz von Ehrenamtlichen eine Art natürliche Grenze gibt. Setzen Verbände zu stark auf Ehrenamtliche, kann der Organisationsaufwand schnell größer sein als die Entlastung; fühlen sich Ehrenämter an wie „echte“ Arbeit, bleiben sie unbesetzt. Das Gleiche gilt, wenn das Ehrenamt ein geringes Sozialprestige hat und die Aufgabe unangenehm und körperlich anstrengend ist.

     Vor diesem Hintergrund mutet der geplante „Bundesfreiwilligendienst aller Generationen“ ein wenig wie die Quadratur des Kreises an. Die Bundesregierung hofft damit ab Mitte nächsten Jahres die knapp 40.000 Zivildienstleistenden zu ersetzen, die es wegen der Abschaffung der Wehrpflicht nicht mehr geben wird. Wie die Zivis sollen auch die Bundesfreiwilligen ihr Amt in Vollzeit und mehrere Monate am Stück ausüben. Dafür sollen sie eine staatliche Aufwandsentschädigung von 500 Euro erhalten, die von den Organisationen aufgestockt werden kann. Außerdem will der Staat die Beiträge zur Sozialversicherung übernehmen.

     Das Bundesfamilienministerium setzt dabei stark auf diejenigen Gruppen, die unter den Ehrenamtlichen bislang unterrepräsentiert sind: Rentner, Migranten und Hartz IV-Empfänger. Die großen Wohlfahrtsverbände reagieren auf diese Idee verhalten. Hinter vorgehaltener Hand gelten arme und sozial schwache Menschen als wenig geeignet fürs Ehrenamt. Nicht zuverlässig genug, nicht belastbar genug. „Die wollen wir gar nicht“ heißt es.

    Auch gegen die weitverbreitete politische Praxis, das ehrenamtliche Engagement über Förderprogramme und Wettbewerbe inhaltlich zu steuern, regt sich zunehmend Widerstand. „Ich sehe nicht, dass die Engagierten noch irgendwas zu sagen haben, wenn öffentliche Gelder ins Spiel kommen“, kritisiert der Geschäftsführer der „Aktiven Bürgerschaft“ Stefan Nährlich. Bei der Verleihung des diesjährigen Sächsischen Förderpreises für Demokratie war des deshalb zum Eklat gekommen. Das Alternative Kultur- und Bildungszentrum Sächsische Schweiz (AKuBiZ) aus Pirna lehnte den mit 10.000 Euro dotierten Preis ab. Es hätte dazu eine „Antiextremistische Grundsatzerklärung“ unterschreiben müssen.

    Zudem drohen durch die enge Verknüpfung von Förderung und Politik viele Projekte als „Förderruinen“ zu enden. Weil die Programme eng an Personen und Parteien gebunden sind, laufen sie bei Personal- und Machtwechseln meist umgehend aus. Gerade bekommen das Mehrgenerationenhäuser zu spüren.      Während der Vorsitzende des „Unterausschusses bürgerschaftliches Engagement“ im Bundestag, Markus Grübel (CDU), findet, „dass das in der Natur der Sache liegt“, fordert Stefan Nährlich, die Förderung des Engagements radikal von der Politik abzukoppeln. „Das Ehrenamt hat in Ministerien nichts zu suchen. Wenn überhaupt, dann fällt der Bereich in die Zuständigkeit des Bundespräsidenten.“

      Ob sich die Politiker zu diesen Schritten durchringen werden? Die „Nationalen Engagementstrategie der Bundesregierung“, die im Oktober vom Bundestag verabschiedet wurde, weist nicht in diese Richtung. Andererseits wächst der Druck, dass die Bürger den Staat stärker als bisher entlasten. Die Familienministerin von Baden-Württemberg hat dies Anfang November im Bundesrat zu bedenken gegeben und dafür geworben, die Förderung in Zukunft von der Zahl der Ehrenamtlichen und dem Grad ihres Engagements abhängig zu machen, um nicht so viel Frust zu produzieren. Das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE), das als eine Art Dachverband fungiert, regte zudem ein „Nationales Engagementgesetz“ an, um für eine größere Klarheit und Verbindlichkeit zu sorgen. „Engagement ist eines der großen Zukunftsthemen“, ist sich BBE-Geschäftsführer Ansgar Klein sicher.

     Lückenbüßer oder gleichberechtigter Partner? Der TSB mit seinem streitbaren Vorsitzenden an der Spitze hat den Machtkampf ausgefochten. Die Denkmalschutzbehörde hat sich zurück gezogen. Die Amtsärztin, die das Bad nach der ersten Inspektion schließen wollte, hat sich nach einem heftigen Streit der Argumentation des TSB angeschlossen. Warum sollte einem Verein verboten werden, was dem Staat erlaubt war? Nun hat sie eine beratende Funktion inne und kommt mit den Ehrenamtlichen besser aus. Außerdem hat der TSB inzwischen von der Europäischen Union bescheinigt bekommen, dass er seine Sache gut macht. Im Oktober erhielt der Verein für die Sanierung der Jugendstil-Schwimmhalle den Kulturerbe-Preis der EU.

    Auch die Ärztin Adelheid Franz hat dem Staat in den letzten zehn Jahren einiges abgetrotzt. Sie gilt in der Landespolitik als Expertin und wird von Gremien um Rat gefragt. Außerdem hat sie als Mitglied der „Arbeitsgemeinschaft Gesundheit in der Illegalität“ erreicht, dass der Mutterschutz von illegal eingereisten Frauen verdoppelt wurde. Damit haben die Mütter und Kinder sechs Monate lang einen Anspruch auf Unterkunft und Sozialleistungen und dürfen zudem nicht ausgewiesen werden. Eine andere Errungenschaft ist, dass der Geheimnisschutz auch auf Arzthelferinnen und Verwaltungsmitarbeitern von Krankenhäusern ausgeweitet wurde.

    Der frühere Bundespräsident Horst Köhler hat ihr dafür das Bundesverdienstkreuz verliehen. Auf Vorschlag des Volkes. Wenn das nicht ein Zeichen ist.