Die Demokratie der Knirpse

MENSCHEN - DAS MAGAZIN, 1/2009

In der Kita „Lotte Lemke“ im schleswig-holsteinischen Halstenbek zählt die Stimme der Kinder genau so viel wie die Stimme der Erzieherinnen. Nicht bei allen Entscheidungen, aber doch bei den meisten.

Als die 22-jährige Erzieherin Katharina Schulz morgens am 12. Juni den Raum der Regentropfen-Gruppe in der AWO-Kita „Lotte Lemke“ in Halstenbek betrat, wusste sie, es ging ums Ganze. Fünf Stunden hatte sie Zeit, die 15 Kinder davon zu überzeugen, dass sie eine gute Wahl für die vakante Stelle wäre. Dann würden die Zwei- bis Sechsjährigen zu den bunten Muggelsteinen greifen und sie auf die drei vorbereiteten Zettel legen. Das lachende Gesicht auf dem ersten Zettel hieß: Ich will Katharina. Das traurige Gesicht auf dem zweiten stand für: Ich will Katharina nicht. Und dann gab es noch ein Fragezeichen für die Unentschiedenen. „Ich war unheimlich aufgeregt“, sagt Katharina Schulz, „aber ich habe anscheinend überzeugt.“ 17 Regentropfen-Kinder wählten „Ja“, drei Steine lagen auf dem „Fragezeichen“. Damit hatte die junge Frau die Stelle.

In der AWO-Kita „Lotte Lemke“, eine halbe Stunde nordöstlich von Hamburg gelegen, entscheiden die Kinder in fast allem, was sie betrifft, mit. Wer soll sie betreuen? Wohin soll die Kita-Reise gehen? Was wollen sie beim Oma-Opa-Fest machen? Welche AGs muss es geben? Welche Teesorten sollen bestellt werden? Wie sorgen wir dafür, dass die Spiegelwand heil bleibt? „Die Kinder müssen sich in einer immer komplexeren Welt zurechtfinden und da ist es wichtig, dass sie abwägen können: `Ist das gut oder ist das nicht gut?´ Und dafür wollen wir den Grundstein legen“, sagt Kita-Leiterin Claudia Baumann, die die Demokratie der Knirpse über etliche Jahre zusammen mit ihrem Team entwickelt hat.  

Die Zeugnisse der Kindermacht finden sich in der Kita überall. Manche fallen sofort auf, wie die Abstimmungszettel mit den aufgeklebten Muggelsteinen zur Einstellung von Katharina Schulz, die gleich in der Eingangshalle hängen. Andere Dinge wirken ganz normal, wie das rosa Prinzessinnen-Zimmer oder die Turnstange draußen im Garten. In beiden Fällen haben die Kinder die Erzieherinnen überstimmt. Und das offenbar zu Recht. „Ich fand die Turnstange schrecklich und hätte die 200 Euro lieber für etwas Wertvolleres ausgegeben“, sagt Claudia Baumann, „aber die Kinder haben mich eines Besseren belehrt: Sie lieben und bespielen die Stange wie verrückt.“

Überraschungen wie diese erlebt das Kita-Team immer wieder. Als die Wolkengruppe neulich die beiden Gruppensprecher für den Kinderrat wählte, schnappte sich auch ein knapp Zweijähriger die Muggelsteine und platzierte sie mit größter Selbstverständlichkeit auf dem Foto eines der Kandidaten. Umgekehrt ziehen die Kinder manchmal auch Entscheidungen zurück, wenn sie merken, dass die Umsetzung schwieriger ist als sie dachten. So entbanden sie die Leiterin der Prinzessinnen-AG kürzlich von dem Entschluss, Prinzessinnen-Kleider nähen zu lassen. Und auch von ihrem Wunsch, die Kita-Reise nach Mallorca zu machen, rückten die Kinder nach einigen Kinderrats-Runden klaglos wieder ab. „Kinder verstehen durchaus, wenn etwas zu teuer ist“, sagt Claudia Baumann, „aber sie müssen die Chance bekommen, das zu erkennen.“

Damit diese Chance gewährleistet ist, hat sich die Kita eine Verfassung gegeben, an die sich alle halten müssen. Auch dann, wenn es mühsam wird. In der Verfassung sind die Rechte, Pflichten und Gremien der einzelnen Gruppen genau beschrieben. Ein Jahr hat die Entwicklung gedauert. Dabei verschob sich die Macht immer weiter zugunsten der Kinder. „Die Kinder sind Spezialisten im Spielen und sie haben ein untrügliches Bauchgefühl“, sagt Claudia Baumann. Die Entscheidung, die Kinder beim Personal mitbestimmen zu lassen, ist deshalb einstimmig gefallen. „Wir brauchen die Kinder als Korrektiv.“

Über andere Punkte hat das Team dagegen hart verhandelt. „Die Themen Essen und Anziehen waren besonders heikel“, sagt Claudia Baumann. Letztlich setzten sich die Partizipationsfans auch da durch. Wenn ein Lotte-Lemke-Kind erklärt, dass es keinen Appetit hat oder ihm eine Jacke zu warm ist, muss seine Entscheidung von den Erwachsenen akzeptiert werden. 

Die 46-Jährige Claudia Baumnan kann sich ihre Arbeit ohne Partizipation nicht mehr vorstellen. Das gilt auch für ihr Team. Und auch den Kindern ist die Mitbestimmung wichtig. Der 6-jährige Max aus der Regenbogengruppe hat für den letzten Kinderrat vor den Sommerferien sogar auf einen Platz in der Ausflugs-AG verzichtet. „Ich mag alles am Kinderrat“, sagt er und schaut kritisch auf sein selbst gemaltes Sitzungsprotokoll, das ihm später in der Gruppe als Gedächtnisstütze dienen wird. Außerdem muss Max die Kinder noch mal abstimmen lassen. Ein paar Eltern haben sich gewünscht, dass die Kinder einen Verkehrsführerschein machen.

Zwanzig Minuten, nachdem die fünf Gruppensprecher den Sitzungsraum mit ihren Ordnern verlassen haben, hängt in der Eingangshalle ein neues Plakat: 43 „Ja“-Stimmen, 18 Mal „Nein“. Der Führerschein wird gemacht. Allerdings nur unter einer Bedingung, die eine der Erzieherinnen im Auftrag der Kinder unter das Abstimmungsergebnis geschrieben hat: „Die Teilnahme am Führerschein soll freiwillig sein.“