Trockenübungen

MENSCHEN - DAS MAGAZIN, 3/2009

Etwa ein Drittel aller alkoholkranken Menschen scheitert in der Therapie an der Forderung nach völliger Abstinanz. Eine Gruppe von Klinikärzten und Therapeuten erzielt mit neuen Therapieformen beachtliche Erfolge – und stellt damit das bisherige System vor ein Problem.

Wenn es nach Martin Reker ginge, dann hinge der Klinikhimmel voller Geigen. „Man kann den Menschen das Abstinenzgebot nicht überstülpen. Sie brauchen etwas, was es ihnen wert macht, mit dem Trinken aufzuhören. Eine Liebe zum Beispiel“, sagt der Leiter der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen in der psychiatrischen Klinik der Bodelschwinghschen Anstalten in Bielefeld-Bethel und lächelt. „Warum sollen wir keine Tanzkurse und Singlepartys anbieten?“

Ja, warum eigentlich nicht? Nicht-alkoholkranke Menschen beflügeln Flirts und die Liebe schließlich auch. Genauso wie es sie umgekehrt oft belastet, unnötig lange von ihren Partnern, Kindern oder auch Haustieren getrennt zu leben. Alkoholiker hingegen werden oft regelrecht genötigt, sich nach der Entgiftung zur stationären Therapie wochenlang fernab von zuhause einzuquartieren, und wenn sich zwei in einer Therapie-Einrichtung verlieben, müssen mit ihrer Entlassung rechnen. Auch Rückfälle werden so sanktioniert. Einer ist erlaubt, beim zweiten Mal fliegt der Patient raus.

Martin Reker findet diese Haltung fatal. „Das ist so, als würde ich jemandem, der während einer Diät ein Stück Kuchen gegessen hat, von oben bis unten mustern und dann sagen: `Wie kannst du das bloß machen? Du weißt doch, wie dick du bist´“, sagt er. Statt den Rückfall als Teil der Krankheit zu sehen und den Umgang damit zu lernen, würden alkoholkranke Menschen als Versager abgestempelt und zum Lügen oder gar in die Resignation getrieben „Der Rückfall ist dermaßen stark Schuld besetzt, dass sich viele gar nicht mehr trauen, um Hilfe zu bitten“, sagt er. Auch dass jeder dritte Alkohol-Patient in Deutschland als „Drehtür-Patient“ gilt – also als jemand, der immer wieder aufs Neue eine Therapie beginnt und abbricht – wundert ihn nicht: „Die Suchttherapie überfordert viele Patienten.“

Der Bielefelder Arzt steht mit seiner Kritik nicht allein. Auch andere Mediziner und Therapeuten stellen die vermeintlich ehernen Regeln infrage. Neben dem stationären Aufenthalt gehört dazu vor allem die rigide Abstinenz-Orientierung. Die Deutsche Rntenversicherung, die für die Behandlung alkoholkranker Menschen zuständig ist, finanziert nur Einrichtungen und Therapien, die ein Leben ganz ohne Alkohol zum Ziel haben. Außerdem müssen die Patienten mit Beginn der Therapie aufhören zu trinken. Joachim Körkel, Professor an der Evangelischen Fachhochschule für Soziale Arbeit in Nürnberg und Verfechter des so genannten Kontrollierten Trinkens, beu dem die Patienten in einer mehrmonatigen ambulanten Verhaltenstherapie lernen, ihren Alkoholkonsum Schritt für Schritt zu reduzieren, packt regelrecht die Wut, wenn er daran denkt. "Wenn Sie Schlaf- und Beruhigungsmittelabhängig sind, darf Sie jeder Therpeut nehmen. Wär's hingegen Alkohol, hätte er ein Problem", schimpft er.

Besonders dramatisch ist das für Patienten, die unter so genannten Doppeldiagnosen leiden, also zusätzlich zur Alkoholsucht noch eine Depression, eine Angststörung, eine Psychose oder ein posttraumatischen Belastungssyndrom haben. Studien zur Traumaforschung aus den USA und den Niederlanden schätzen, dass jeder dritte Alkoholpatient mehrfach belastet ist. Weil diese Menschen den Alkohol häufig dazu benutzen, die anderen Symptome zu unterdrücken, ist es nahezu unmöglich für sie, trocken in eine Therapie einzusteigen. Entweder Alkohol oder schwerster, manchmal sogar lebensbedrohlicher, seelischer Stress - so lautet für sie die Alternative, die keine ist. Die meisten trinken wieder, kaum dass sie der Entgiftungsstation den Rücken zugekehrt haben. Bis zu einer weiterführenden Therapie kommen sie erst gar nicht.

Eine Lösung wäre es, beide Störungen parallel zu behandeln. Für die Rentenversicherung hieße das, jemanden zur Therapie zuzulassen, der nicht trocken ist. Ein Sakrileg, undenkbar. Ingo Schäfer, Arzt am Hamburger Universitätsklinikum für Psychiatrie und Psychotherapie und wissenschaftlicher Mitarbeiter des dort angesiedelten Zentrums für Interdisziplinäre Suchtforschung hat diesen Ansatz trotzdem verfolgt. Zu viele Patienten hatten ihm beim Aufnahmegespräch auf der Entgiftungsstation von traumatischen Erfahrungen in ihrer frühen Kindheit berichtet. Als Schäfer mit zwei Psychologinnen schließlich  in der Klinik für vier ehemalige Patientinnen die Gruppe „Trauma und Sucht“ einrichtete, war die Reaktion überwältigend. „Die Teilnehmerinnen haben gesagt: `So etwas suchen wir schon lange´“, erzählt er.

Weil die Rentenversicherung sich auf das Abstinenzgebot zurückzieht, arbeiten die Psychologinnen zum Teil ehrenamtlich und auch Schäfer selbst hat einen langen Tag. Oft bereitet er nach dem Dienst noch Vorträge vor, denn auch bei vielen Kollegen hat die „Trauma und Sucht“-Gruppe offenbar einen Nerv getroffen. Aus dem gesamten Bundesgebiet gehen Anfragen ein. Gleichzeitig versucht der Arzt Stiftungsmittel und Gelder von der Stadt einzuwerben für eine weitere Gruppe für Männer. „Es ist absolut notwendig, dass längerfristig eine Finanzierung vom Kostenträger bereit gestellt wird“, sagt er.

Ob dieses Wunder eintreten wird? Wahrscheinlich ist das erst mal nicht. Trotz des Interesses an Schäfers „Trauma und Sucht“-Konzept haben sich zu viele Beteiligte innerhalb des System mit dem falsch behandelten Drittel alkoholkranker Menschen abgefunden. Joachim Körkel, gestählt im jahrelangen Kampf mit der übermächtigen Rentenversicherung, nimmt kein Blatt vor den Mund. „Das ist ein fast schon mafiöses System“, sagt er, „die Pfründe sind verteilt und die Beamten bekommen ihr Geld auch ohne Innovation.“ Nicht Hippokrates, sondern Machiavelli fällt ihm ein: „Wer etwas Neues will, hat all diejenigen zum Feind, denen es unter den herrschenden Bedingungen gut geht.“

Das Kontrollierte Trinken steht dabei besonders unter Beschuss. Ist Joachim Körkel zu Fernseh-Talkrunden eingeladen, findet er sich meist an die Seite von ebenfalls eingeladenen Brauereichefs gestellt, während trockene Alkoholiker mit dem Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtgefahren koalieren und die Abstinenz als den einzigen wahren Weg propagieren. Dabei ist der frühere therapeutische Leiter einer Suchtklinik und approbierte Therapeut alles andere als ein heimlicher Alkohol-Lobbyist: „Bereits im ersten Jahr nach der Suchtbehandlung in einer Fachklinik beträgt die Rückfallquote über 50 Prozent. Und da wäre es doch gut, wenn man einen Teil der Menschen im Absturzprozess mit dem Kontrollierten Trinken abfangen könnte.“

Statt der Deutschen Rentenversicherung haben sich nun die ersten Krankenkassen der öffentlich so umstrittenen Therapie angenommen. Sie bezahlen ihren Mitgliedern die Behandlung, ermuntern Suchtbeauftragte in Betrieben, sich mit dem Kontrollierten Trinken zu befassen und bilden sogar selber Therapeuten darin aus. Billig ist das nicht und doch muss es sich wohl rechnen: Die Krankenkassen kommen nämlich für die Behandlung der körperlichen Folgen der Alkoholsucht auf. Diese sind teuer. Alkohol zerstört den menschlichen Körper grausam und nachhaltig.

Umso wichtiger sei es, den Patienten rechtzeitig und konsequent zu helfen, meint Martin Reker. Er hat in Bielefeld deshalb Menschen aus unterschiedlichen sozialen Berufen und Einrichtungen zu einem festen Netz verknüpft und sie in einer mehrwöchigen Ausbildung auf einen gemeinsamen therapeutischen Ansatz eingeschworen. Dazu hat die Klinik Kooperationsvereinbarungen mit Einrichtungen außerhalb des Hilfssystems geschlossen, beispielsweise mit dem Jobcenter der Bielefelder Arge.

Die ersten Erfolge dieses so genannten Community Reinforcement Approach – was sich frei aus dem amerikanischen als „Gemeinschaftsanstrengung“ übersetzen lässt, haben sich bereits eingestellt. Seit die Mitarbeiter der ARGE wissen, was sie alkoholkranken Menschen zumuten können und welche besondere Unterstützung diese Gruppe braucht, haben die Streitereien, die früher an der Tagesordnung waren, stark nachgelassen. Auch dass alle im Netzwerk die gleiche Philosophie verfolgen, hat die Behandlung deutlich effektiver gemacht. In der Regel hängen die verschiedenen Einrichtungen unterschiedlichen therapeutischen Konzepten an. Im schlimmsten Fall vertreten sie konträre Meinungen. Dann fangen die Patienten mit jedem Wechsel von vorne an.

Nur von den Singlepartys und Tanzkursen ist der rührige Arzt noch etwas entfernt. Immerhin hat er eine bestehende Partnerschaft mithilfe des Netzwerks gerettet. Ein Patient gab an, dass das, was es ihm wert machte, mit dem Trinken aufzuhören, seine Ehe sei. Mit dem Einverständnis beider Partner rief Martin Reker den Paartherapeuten auf den Plan. Martin Reker sieht die beiden, die in der Stadt ein Geschäft betreiben, fast täglich durchs Schaufenster. Was unter normalen Umständen aus ihnen geworden wäre – wer weiß. Der Mann in der Gosse, das Geschäft verkauft, die Frau verbittert. Solche Geschichten gibt es schließlich immer wieder. Zu oft.