Alle Macht dem Volke

MENSCHEN - DAS MAGAZIN, 2/2009

Volksbegehren sind ein Lehrstück für Demokratie. Sie bieten Bürgern die Möglichkeit, direkten Einfluss auf die Politik zu nehmen. Und die Aussichten auf Erfolg sind gar nicht schlecht. Doch der deutsche Gesetzgeber hat, anders als die Nachbarn in der Schweiz, Bedenken gegen zu viel Einmischung.

Am 8. Februar 1998 hat Urban Mangold aus Passau den Bayerischen Senat abgeschafft. Schon lange war ihm das Gremium ein Dorn im Auge. Zeit seines Bestehens hatte der Senat kaum etwas bewirkt, dafür jedoch jährlich acht Millionen Mark verschlungen. Zudem entsprach der Senat nicht Mangolds Auffassung von Demokratie. Die Senatoren  wurden nicht vom Volk gewählt, sondern von der Bayerischen Staatskanzlei bestimmt. Der Bayerische Hausfrauenbund war drin. Verbände, die der CSU nicht passten, wie beispielsweise der Bund für Umwelt- und Naturschutz, hatten keine Chance. Für Mangold, damals 35, Mitglied der Ökologisch Demokratischen Partei (ÖDP), ehrenamtlicher Stadtrat und Journalist ein Skandal, gegen den er schließlich einen Volksentscheid initiierte. „Der Senat ist eine reine Honoratiorenkammer“, argumentierte er.

Das Begehren, das von der ÖDP und etlichen Vereinen unterstützt wurde, setzte Maßstäbe. 43 Prozent aller Wahlberechtigten in Bayern gingen zu den Urnen, 70 Prozent von ihnen sprachen sich gegen den Senat aus. Die Älteren, weil sie sich wie Mangold an keine relevante Entscheidung erinnern konnten. Die Jungen, weil sie noch nie von der Existenz eines Bayerischen Senats gehört hatten und daraus schlossen, dass er offenbar keine besonders wichtige Rolle spielte. Der Bayerische Rundfunk, der live aus dem Landtag berichtete, zeigte fassungslose Politikergesichter. „Sie konnten es kaum glauben“, erinnert sich Urban Mangold, der nebenan im Hofbräukeller den Sieg mit seinen Mitstreitern feierte. Das Volk hatte ihnen ein Machtinstrument genommen.

Der – im wahrsten Sinne des Wortes – Fall des Bayerischen Senats zeigt, dass die direkte Demokratie keinesfalls das stumpfe Schwert ist, für das sie viele halten. Wer gut organisieren kann und sich nicht scheut, wildfremde Menschen auf der Straße von seinem Anliegen zu überzeugen, kann in der Landes- und Kommunalpolitik durchaus etwas erreichen. Manche ärgert ein Senat, andere eine zu hohe Anwohner-Parkgebühr. Dritte wiederum finden es falsch, die Stadtwerke zu privatisieren. Frankfurt am Main ist dank eines Bürgerbegehrens sogar vor einem Milliardenverlust bewahrt worden. Der Rat hatte die U-Bahn vor ein paar Jahren an einen US-amerikanischen Investor verkaufen und zurück leasen wollen. Die Bürger waren dagegen. Der Investor ist heute pleite.

Gleichzeitig ist ein Bürger- oder Volksbegehren ein enormer Kraftakt. Anders als in der benachbarten Schweiz stehen deutsche Politiker der direkten Demokratie eher ablehnend gegenüber. Entsprechend hoch sind die Hürden, die sie Kraft ihres Amts in die Verfassungen geschrieben haben. Urban Mangold und seine Mitstreiter hatten gerade mal zwei Wochen Zeit, um 900.000 Wahlberechtigte dazu zu bringen, ins Rathaus zu gehen und dort – das ist der erste Schritt – für das Volksbegehren als solches zu unterschreiben. In den meisten anderen Bundesländern ist die Gesetzeslage ähnlich. „Die Politiker wollen nicht, dass ihnen aus der unorganisierten Bürgerschaft hinein gefunkt wird“, sagt der Marburger Politologe Theo Schiller, der auch Leiter der „Forschungsstelle Bürgerbeteiligung und Direkte Demokratie“ an der Marburger Universität ist.

Zudem scheinen die Polit-Profis die Bürger für schlechte Rechner zu halten. Während in manchen Schweizer Kantonen die Bürger obligatorisch an allen großen Haushaltfragen beteiligt werden, sind in Deutschland Volks- und Bürgerbehren, die den Haushalt berühren, nicht zugelassen. Dabei zeigen Studien, dass die Kantone mit einer regen Mitbestimmung eine höhere Wirtschaftsleistung und gesündere Haushalte aufweisen. Selbst eine Mehrwertsteuererhöhung war mit Schweizer Bürgern zu machen. Als die Regierung ihnen erklärte, dass mit dem Geld die Bahn ausgebaut werden soll, stimmten sie in einem Referendum zu. „Die direkte Demokratie ist für das Gemeinwesen ein Zugewinn“, sagt Theo Schiller, „die Parteien müssen sich stärker öffnen und nach außen orientieren. Es reicht nicht mehr, nur den politischen Gegner zu überzeugen, sondern es müssen Argumente gefunden werden, die den Bürger interessieren.“

Umgekehrt bringt die direkte Demokratie auch die Bürger auf Trab. „Volksbegehren sind Volksbildungsveranstaltungen“, sagt Ralf-Uwe Beck, Pressesprecher der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland und Vorsitzender des thüringischen Landesverbands von „Mehr Demokratie“, ein Verein, der sich für eine Stärkung direktdemokratischer Verfahren einsetzt und Initiatoren von Volks- und Bürgerbegehren berät und begleitet.

Ralf-Uwe Beck hat in Thüringen gleich zwei solcher Volksbildungsveranstaltungen initiiert, beide um die Hürden für die direkte Demokratie zu senken, die in dem CDU-regierten Bundesland besonders hoch lagen. Für die 250.000 Unterschriften, die zur Zulassung des zweiten Volksentscheids nötig waren, hat Beck errechnet, haben die 2000 Sammler etwa eine Million Gespräche geführt. Dabei hätten die Menschen nicht nur ihren Wissenshorizont vergrößert, sondern auch ihr Menschenbild erweitert. „Bei einem Volksbegehren muss man jeden Menschen ansprechen, egal, aus welcher Schicht er kommt, ob er gepierct ist oder so aussieht, als würde er eine andere politische Meinung vertreten als man selbst.“

Ralf-Uwe Beck hat bei seinen Einsätzen auf der Straße „die Menschen nicht als dumm erlebt“. Umso mehr bedrückt ihn die Reaktion der thüringischen Landesregierung. Den ersten Entscheid von 2001 legte sie dem Landesverfassungsgericht zur Prüfung vor. Das Gericht gab der Klage zwar nicht in allen Punkten statt, aber doch in einigen. Das zweite Volksbegehren von 2008, mit dem die Begehren auf Kommunalebene bürgernäher werden sollten, torpedierte die Regierung mit einem formalen Trick. Nach der erfolgreichen Sammlung änderte sie das Gesetz, gegen das die Bürger unterschrieben hatten, allerdings ohne ihren Forderungen wirklich entgegen zu kommen. Im Gegenteil, sie mogelte sogar einen „Amtseintrag“ hinein, der die Bürger zwingt, bei zukünftigen Begehren zum Unterschreiben ins Rathaus zu gehen.

Ob diese Scharade rechtens war oder ob die Parlamentarier ihre Macht missbraucht haben, muss nun das Landesverfassungsgericht von Thüringen klären. Dass die Politiker vollkommen überreagiert haben, steht außer Frage. Die Erfahrungen aus Ländern mit einer starken direkten Demokratie – dazu gehören unter anderem Liechtenstein, die Schweiz, Slowenien, Lettland und die USA – zeigen, dass die Bürger keineswegs ein Begehren nach dem anderen starten. Im Gegenteil, mit dem überwiegenden Teil der von den Politikern gemachten Gesetze sind die Menschen offenbar einverstanden. Nur einen geringen Teil fechten sie an. Davon wiederum wird nur ein kleiner Teil gekippt. „Ein Volksentscheid ist ein riesiger Aufwand, das macht man nur, wenn man in Not ist“, sagt Ralf-Uwe Beck.

Auch andere gängige Argumente gegen den Ausbau der direkten Demokratie lassen sich mit Fakten leicht entkräften. So soll die direkte Demokratie mit Schuld an der Instabilität der Weimarer Republik gewesen sein. In Wirklichkeit hat es während ihres gesamten Bestehens lediglich acht Volksbegehren und zwei Entscheide gegeben. Einen von der SPD und einen von der NSDAP. Letzterer scheiterte. Auch die Behauptung, dass die direkte Demokratie extremistischen Gruppen zugute kommen würde, steht auf wackeligem Grund. Wer ein Volks- oder Bürgerbegehren initiieren möchte, muss zuallererst Kontakt zur zuständigen Behörde aufnehmen und dort die Verfassungsmäßigkeit des Anliegens  überprüfen lassen. „Es sind noch keine Volksbegehren gestartet worden, bei denen eine radikale Initiative im Hintergrund stand“, versichert Michael Efler, Mitglied im Bundesvorstand von „Mehr Demokratie“.

Das heißt natürlich nicht, dass Volks- und Bürgerbegehren frei von ideologischem Interesse sind. In Berlin steht gerade der Religions-Unterricht zur Debatte. Der rot-rote Senat unter Bürgermeister Klaus Wowereit hatte ihn per Gesetz durch das Fach Ethik ersetzen lassen. Die Evangelische Landeskirche in Berlin, mit ihrem prominenten Vorsitzenden Bischof Wolfgang Huber an der Spitze, initiierte daraufhin das Volksbegehren „Pro Reli“. Wohl noch nie ist in der Hauptstadt derart viel und derart emotionsgeladen über Religion, die Aufgabe von Schulen und die Selbstbestimmung von Eltern diskutiert worden.

Ende April sind die Bürger zur Abstimmung aufgerufen. Die Möglichkeit zur gütlichen Einigung, die das Verfahren nach der ersten Sammelphase einräumt, hat der Senat nicht genutzt, was erstaunlicherweise eher selten der Fall ist. Oft lenken die Politiker ein, wenn sie die vollen Unterschriftenlisten sehen, und manchmal erfüllen sie die Forderungen der Begehren sogar bevor die Unterschriften-Sammlung überhaupt richtig startet. Möglicherweise, weil sie das Thema aus der öffentlichen Debatte heraushalten wollen oder weil sie es nicht riskieren möchten, als „Verlierer“ dazustehen.

Selbst wenn man mit einem Begehren scheitert, muss noch nicht alles verloren sein. Im Berliner Bezirk Mitte hat eine Anwohnerinitiative zwar nicht verhindern können, dass in ihrem Viertel Parkautomaten aufgestellt wurden, dafür hat sie den Preis für die Vignette um ein gutes Drittel gedrückt und Sonderregelungen für Car-Sharing-Nutzer bewirkt. Außerdem hat die Gruppe einen Crashkurs in Sachen Bezirkspolitik absolviert. „Vorher war ich ein passiv demokratischer Bürger“, sagt Matthias Schulze, 35, Rechtsanwalt und Sprecher der Initiative, „jetzt denke ich: Wir haben das Instrument des Bürgerbegehrens und müssen es nutzen. Wenn die Politiker mit sich selbst allein bleiben, dann fehlt ein Korrektiv. Wir Bürger sind eine Kontroll-Instanz.“

Das sieht auch Urban Mangold so – und findet es beruhigend, denn er hat inzwischen die Seiten gewechselt. Im vergangenen Mai ist der erfahrene Volks- und Bürgerbegehrens-Initiator in Passau zum stellvertretenden Bürgermeister gewählt worden. „Allein das Vorhandensein direkt-demokratischer Instrumente bewirkt, dass Politiker nicht so leichtsinnig sein können“, sagt er.

Aus diesem Grund wünscht er sich auch, dass auch auf Bundesebene endlich Volksbegehren eingeführt werden. Das jedoch ist unwahrscheinlich. Das Einführen direktdemokratischer Verfahren im Bund setzt eine Verfassungsänderung voraus und für die braucht es im Bundestag eine Zweidrittel-Mehrheit.

Vier Versuche sind bereits gescheitert. Anfang Februar lehnte der Innenausschuss des Bundestags drei weitere Gesetzentwürfe von Bündnis90/Grüne, der FDP und der Linken ab. Auch die SPD stimmte dagegen, obwohl sie 2002 noch selbst einen Gesetzentwurf zur direkten Demokratie vorgelegt hatte. Damals regierte sie allerdings mit den Grünen, jetzt hat sie diejenigen, die damals gegen die direkte Demokratie stimmten, zum Partner und da gilt es offenbar den Koalitionsfrieden zu bewahren. Mag sein, dass sich die Schweizer Top-Politiker von ihrem Volk korrigieren lassen. Die deutsche Regierung verbittet sich das.