Hauptsache Arbeit

MENSCHEN - DAS MAGAZIN, 4/2009

Was tun, wenn der Hauptschulabschluss unerreichbar bleibt? Auch dann gibt es für junge Menschen mit Lernbehinderungen Wege in den Arbeitsmarkt. Vorausgesetzt, alle Beteiligten verfolgen konsequent dieses Ziel. Im badischen Bruchsal gelingt dies vorbildlich.

Noch eine Woche, dann beginnt für Marcel das Arbeitsleben. Bäume setzen, Baustellen einrichten, Bagger fahren, Wege pflastern, mit dem Presslufthammer den Asphalt aufreißen, – der 21-Jährige mit den kupferroten Haaren hat in einem Praktikum eine ganze Menge gelernt. Nun geht er als Bauhelfer zu einem kommunalen Bauhof. „Mich braucht jeder dort“, sagt er selbstbewusst. „Die wissen, der tut schaffe.“

Mich braucht jeder! Nicht viele junge Menschen mit einer Lernbehinderung und ohne Hauptschulabschluss können das von sich behaupten. Im Gegenteil: die meisten ehemaligen Förderschüler hangeln sich von Maßnahme zu Maßnahme, um schließlich, mit Mitte 20, doch in einer Werkstatt für behinderte Menschen zu landen. Nur Einzelnen gelingt der Sprung in den ersten Arbeitsmarkt.

In Marcels KoBV-Klasse im badischen Bruchsal ist das hingegen die Regel. Von den bislang 38 Teilnehmern arbeiten 25 in privaten und öffentlichen Betrieben. 23 von ihnen besitzen unbefristete Verträge. Marcel wird die Liste verlängern. „Ohne Arbeit leben – das kann ich nicht mehr“, sagt er.

KoBV steht für: `Kooperative berufliche Bildung und Vorbereitung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt´. Wichtig ist das Prinzip, das hinter dem Behördendeutsch steckt. Bei der KoBV ziehen alle Beteiligten an einem Strang – die Förderschulen, die Arbeitsagentur für Arbeit, der städtische Integrationsfachdienst, der Kommunalverband für Jugend und Soziales, das Balthasar-Neumann-Berufsschulzentrum und die Lebenshilfe. Das ist bundesweit einzigartig. Sogar die Finanzierung läuft wie geschmiert – angesichts von 68 potentiell zuständigen Stellen ein echtes Wunder. „Wir haben die Systeme kurzgeschlossen“, sagt Berthold Deusch vom Kommunalverband für Jugend und Soziales, der das KoBV-Konzept 2005 erfunden hat.

Bei den Betrieben kommt die Einmütigkeit der Ämter und Institutionen gut an. Viele fürchten sich vor dem bürokratischen Aufwand, den die Beschäftigung von lernbehinderten jungen Menschen mit sich bringt, mehr, als vor dem Handicap selbst. Außerdem haben KoBV-Schüler einen Jobcoach, der sich um Probleme inner- und außerhalb des Betriebs kümmert und auch nach einer Übernahme als Ansprechpartner zur Verfügung steht. Dazu kommt die Ehrlichkeit des Ansatzes. „Es geht uns nicht um einen Berufseinstieg, sondern um einen Arbeitseinstieg“, sagt Wolfgang Weis vom Integrationsfachdienst. Anders formuliert: Ziel der KoBV ist es, die lernbehinderten jungen Menschen so fit zu machen, dass sie ihr Leben als Hilfsarbeiter bestreiten können.

Bei dem 20-jährigen Orhan ist das gelungen. Seit anderthalb Jahren schlüpft der kräftige junge Mann mit dem vorsichtigen Händedruck jeden Morgen in ein weißes T-Shirt mit dem Aufdruck „Autohaus Barth“ und begrüßt seine Kollegen. Danach wechselt er Bremsen, tauscht Öl, montiert einen neuen Auspuff, baut Luftfilter aus und ein und überprüft die Beleuchtung. Bevor die Autos wieder  rausgehen, überprüft Juniorchef Andreas Barth, ob Orhan alles richtig gemacht hat. Das haben sie so verabredet und Orhan hat kein Problem damit. Er weiß, dass er manchmal etwas übersieht und schnell zu verunsichern ist, sobald Zahlen im Spiel sind. Am Anfang hat er deshalb nach dem Ölwechsel auf dem Ölzettel alle Zahlen eingetragen, die er auf dem Armaturenbrett finden konnte, einschließlich der Uhrzeit. Das passiert ihm heute nicht mehr. „Orhan ist auf jeden Fall eine Stütze“, lobt sein Chef, „und wenn man ihn fragt, ob er auch mal am Samstag kommt, sagt er nie nein.“

Von der Zuverlässigkeit und Arbeitsfreude aktueller und ehemaliger KoBVler schwärmen auch andere Arbeitgeber. Für Wolfgang Weis vom Integrationsfachdienst ist das ein Beweis dafür, dass es sich auszahlt nach Praktikumsstellen zu suchen, die den jungen Leuten liegen. Während die Teilnehmer bei herkömmlichen Berufsvorbereitungsmaßnahmen oft auf drei oder vier Arbeitsbereiche beschränkt sind, finden sich in der Datenbank des Heilpädagogen neben den obligatorischen Großküchen und der Kfz-Werkstatt Barth auch ein Fliesenleger, ein Stuckateur, eine Blechnerei, ein Parkett-Betrieb, eine Mühle, ein Großhandelsbetrieb, zwei Bäckereien, eine Drogerie, ein Supermarkt, eine Baumschule, eine McDonalds-Filiale, diverse Gärtnereien, Reinigungen und kommunale Bauhöfe. Wenn es nötig ist, schnappt sich Wolfgang Weis aber auch die Gelben Seiten und betreibt Kaltakquise. „Ich bin ein guter Verkäufer“, hat er festgestellt.

Auch die anderen Mitstreiter im KoBV-Team sind weit davon entfernt, sich auf einmal Erreichtem auszuruhen. Jobcoach Kai Lück ist gelernter Schreiner und Hotelkaufmann und geprüfter Techniker, außerdem hat er sozialpädagogische Zusatzausbildung absolviert. Manfred Niedermaier, der den KoBV-Zweig auf Schulseite leitet, ist gelernter Metaller und Technischer Lehrer. Wie alle Berufsschullehrer, die an der Balthasar-Neumann-Schule KoBV-Schüler unterrichten, hat auch er über ein Jahr lang einmal in der Woche sonderpädagogisches Knowhow gebüffelt. Störungsbilder, Lerntechniken, Gesprächsführung, familiäre Defizite bis hin zum Thema Rechtsradikalismus. „Das braucht man halt“, sagt er.

Trotzdem gibt es immer wieder Momente, in denen auch das KoBV-Team machtlos ist. Das gilt vor allem dann, wenn die Eltern die Behinderung ihres Kindes nicht akzeptieren wollen und doch noch von einem Hauptschulabschluss und einer Berufsausbildung träumen. Die Teilnahme an der KoBV-Maßnahme setzt den Besitz eines Schwerbehinderten-Ausweises voraus, schon allein deshalb, weil nur dann die öffentliche Hand dem Betrieb die Differenz zwischen der Leistung des lernbehinderten Mitarbeiters und dem Tariflohn zahlt. Manche Eltern brauchen Zeit und etliche Gespräche, bis sie sich dazu durchringen, die Lernbehinderung amtlich zu machen. Dabei sind die Aussichten mit einem schwachen Hauptschulabschluss auf dem Arbeitsmarkt sehr viel schlechter.

Für die Jugendlichen ist das Eingeständnis ihrer Lernschwäche hingegen oft eine Erleichterung und eine Stelle als Hilfsarbeiter keineswegs tabu. Zwar wissen sie, dass ihnen als Hilfsarbeiter ein Leben auf schmaler finanzieller Basis bevorsteht, sehr viel mehr schreckt sie jedoch die Vorstellung, untätig zuhause herumzusitzen. Nicht mal im Berufsschulunterricht wollen sie eine Pause machen. „I wo“ sagt der 19-jährige Florian stellvertretend für alle, als Lehrerin Christiane Kolberg-Heß nach einer Stunde eine Unterbrechung vorschlägt. Nahtlos geht es zu den Verkehrszeichen über: Ver- und Gebotszeichen, wer hat wann Vorfahrt? Die KoBV-Schüler brennen darauf, Führerschein zu machen und auch ihre Arbeitgeber sähen das gern. Deshalb pauken sie in der Berufsschule wieder und wieder die Prüfungsbögen. "Servicelearning" nennt sich das.

Dass durch solche Spezialstunden kaum Zeit für das oft mühsam antrainierte Schreiben, Lesen und Rechnen bleibt, nimmt das KoBV-Team in Kauf. Andererseits begreifen die jungen Leute bei der Arbeit manches, was ihnen in der Schule bis zum letzten Tag rätselhaft blieb. Orhan zum Beispiel hat durch das Prüfen des Reifendrucks endlich verstanden wie Kommazahlen funktionieren. Als nächstes will Juniorchef Andreas Barth das Rechen mit einfachen Brüchen mit ihm üben. Noch sagt Orhan, wenn er gefragt wird, wie viel Liter Öl er nachgefüllt hat, „einhalb einviertel“. „So eine Lernbehinderung“, sagt Andreas Barth kopfschüttelnd, „kann man als Außenstehender kaum nachvollziehen.“

Auch Orhans Sozialverhalten musste er erst deuten lernen. Orhan reagierte zu Beginn des Praktikums fast panisch, wenn er nicht um Punkt 17 Uhr die Werkstatt verlassen konnte. Manchmal haute er einfach ab. Ohne den Jobcoach hätte Andreas Barth ihn entlassen. Kai Lück entlockte Orhan schließlich, dass ihm sein Vater bei Unpünktlichkeit Prügel angedroht hatte. „Damit war das Thema erledigt“, sagt Andreas Barth.

Auch als Orhan vor Gericht geladen wurde, weil er mehrfach auf einem frisierten Mofa erwischt worden war, hat sich Kai Lück für ihn verwandt. Wäre Orhan verurteilt worden, hätte er keinen Führerschein machen dürfen, den jedoch brauchte er für die Arbeit bei den Barths dringend. Das Gericht war kulant, Orhan baute sein Mofa zurück und fing an für den Führerschein zu büffeln. Einmal fiel er durch die Theorie durch, beim zweiten Mal hat es geklappt. „Herr Lück war eine große Hilfe für mich“, sagt Orhan, „alleine hätte ich das nicht so weit geschafft.“

Wolfgang Weis, Kai Lück und die anderen im Bruchsaler KoBV-Team sind sich sicher, dass auch die meisten anderen KoBV-Schüler ihren Platz im ersten Arbeitsmarkt finden und sich behaupten werden. Nicht als Gesellen und Facharbeiter, aber als finanziell abgesicherte, von den Kollegen geschätzte Hilfsarbeiter. Marcel, von dem alle wissen, dass er „schaffe kann“ wird der nächste in der Reihe sein. Auch Manuel, der sein Praktikum bei einem AWO-Team für Haushaltsauflösungen macht, wird wahrscheindlich übernommen. „Kasse hat nicht geklappt, aber Möbel kann ich“, sagt er. Die anderen Schüler haben noch ein paar Praktikumsmonate vor sich, und manche werden den Betrieb vielleicht auch noch mal wechseln. Auch das ist bei der Kooperativen Arbeits- und Berufsvorbereitung erlaubt. Und wer doch lieber in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten möchte, kann auch das tun.