Das Leben, ein Kraftakt

MENSCHEN - DAS MAGAZIN, 4/2009

Das Leben ist ein Kraftakt. In jeder Sekunde. Also auch jetzt. Die Augenmuskeln sorgen dafür, dass die Pupillen den Buchstaben folgen können, die Muskeln im rechten Arm und in der rechten Hand machen das Umblättern möglich, der Herzmuskel pumpt das Blut durch die Adern, das den Körper mit Nährstoffen versorgt. Stehen alle Muskeln still, fehlt uns im wahrsten Sinne des Wortes die Kraft zum Leben und wir sterben. Doch wie funktionieren unsere Muskeln eigentlich? Warum streiken sie manchmal? Und warum fühlen wir uns mit 60 Jahren nicht mehr so stark wie mit 30? Zeit für eine kleine Muskelkunde.

1. Wie erzeugt ein Muskel Kraft?

Muskeln bestehen zu 90 Prozent aus Eiweißverbindungen. Für die Kontraktion eines Muskels ist das Adenosintriphosphat (ATP) entscheidend, ein Einweißmolekül, an dem drei Phosphat-Teilchen hängen. Sendet das Gehirn an den Muskel den Impuls, sich zusammen zu ziehen, spaltet sich eines der drei Phosphatteilchen vom ATP-Molekül ab. Die dabei frei werdende Energie versetzt die beiden Muskelfäden in die Lage, ineinander zu gleiten und sich für eine Weile zu verhaken. Auf diese Weise verkürzt sich der Muskel und es entsteht Kraft. Die Menge der pro Impuls gespaltenen ATP-Moleküle variiert dabei zwischen ein paar tausend und mehreren Millionen, je nachdem wie viel Kraft erzeugt werden soll, wie groß und trainiert der Muskel ist und wie viel Energie für die Reparatur von zersprengten ATP-Molekülen zur Verfügung steht.

2. Warum ist Muskeltraining anstrengend?

Der Körper ist darauf geeicht in jedem Muskel eine bestimmte Menge ATP-Moleküle vorzuhalten, um die Funktionsfähigkeit des Organs zu garantieren. Weil das ATP im Muskel endlich ist und nicht von außen zugeführt werden kann, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die aufgespaltenen ATP-Moleküle zu reparieren. Kommt der Körper mit der Reparatur der ATP-Moleküle nicht mehr hinterher, sendet der Muskel Warnsignale über das zentrale Nervensystem aus. Die Folge: Wir fühlen uns schlecht, zweifeln am Sinn der Kraftanstrengung, werden langsamer und hören schließlich auf. Dass Marathonläufer manchmal kurz vor dem Ziel plötzlich anfangen zu gehen anstatt zu rennen, ist dadurch zu erklären. Auch plötzliche Hungerattacken hängen mit der ATP-Reparatur zusammen. Um das kaputte ATP wieder mit dem dritten Phosphatteilchen zu vereinen, benötigt der Muskel Kohlehydrate. Gehen sie zur Neige, tauchen vor dem inneren Auge Schokolade, Leberwurstbrote und Schnitzel auf.

3. Weshalb haben Männer mehr Kraft als Frauen?

Das Muskelwachstum hängt von drei Hormonen ab: dem Wachstumshormon, dem Insulin und dem Testosteron. Da Mädchen in der Pubertät weniger Testosteron und Wachstumshormone ausschütten als Jungen, prägen sich ihre Muskeln nicht so stark aus; sie werden zum „schwachen Geschlecht“. Am stärksten sind Männer zwischen 30 und 35 Jahren, vorausgesetzt natürlich, sie trainieren. Danach nimmt ihre Kraft ab. Wann Frauen den Höhepunkt ihrer Kraft erreichen, ist bislang nicht untersucht worden. In der  Sowjetunion und auch in der DDR wurden Mädchen in Kraftsportdisziplinen lange mit Wachstumshormonen und Testosteron gedopt. Auf die Zusammensetzung der Muskeln haben die drei Hormone keinen Einfluss. Das regeln die Gene. Geborene Sprintertypen und Ausdauermenschen gibt es unter beiden Geschlechtern gleichermaßen.

4. Wer ist stärker – ein Gewichtheber oder ein Balletttänzer?

Die Faustregel lautet: Je mehr Masse ein Mensch hat, umso mehr Kraft hat er wahrscheinlich auch. Ein Erwachsener kann ein Kind heben, nicht umgekehrt. In Kilogramm gemessen stemmt ein kräftiger Gewichtheber ein größeres Gewicht als ein graziler Balletttänzer. Im Verhältnis zu seinem Körpergewicht, schneidet aber vermutlich der Balletttänzer besser ab. Während schwere Menschen maximal das Doppelte ihres Körpergewichts heben können, können leichte Menschen pro Kilo Körpergewicht fast 3,5 Mal so viele Kilogramm heben. Kraft ist also auch eine Frage des Trainings.

5. Warum werden wir im Alter schwächer?

Mit zunehmendem Alter nimmt der Eiweißgehalt des Muskels ab – und damit seine Leistungsfähigkeit. Mediziner sprechen von Sarkophenie. Sie tritt auch bei Krebspatienten und Herz- und Lungenkranken auf. Die Ursache ist noch unbekannt. Allerdings liegen die Eiweiß-Einbußen im Alter lediglich zwischen 10 und 30 Prozent. Das heißt, dass ein Teil des Schwächerwerdens auch mit mangelnder Beanspruchung der Muskulatur zu erklären ist. Biologisch gesehen gibt es für das Muskeltraining keine Altersgrenze. Davon zeugen auch die Senioren-Bodybuilding-Meisterschaften und 80-Jährige Marathonläufer. Allerdings passen sich alte Muskel den Belastungen nicht mehr so schnell an, wie junge Muskeln und auch das Regenieren des Muskels dauert um einiges länger. Meist sind es jedoch nicht die Muskel, die im Alter schlapp machen, sondern die Knochen und Gelenke.

6. Warum bilden sich Muskeln zurück?

Wenn Muskeln gefordert werden und dabei ausreichend mit Energie versorgt sind, kommt es zur so genannten Hypertrophie: die Muskelzellen werden größer und dicker. Werden Muskelzellen nicht beansprucht, also bekommen die Muskeln nur wenig Impulse vom Gehirn, schnurren sie hingegen zusammen, die Zellen atrophieren. Wer schon mal ein Gipsbein hatte, kennt diesen Effekt. Wichtig zu wissen ist, dass die Zahl der Muskelzellen auch im atrophen Zustand konstant bleibt, lediglich ihr Zustand verändert sich. Bleiben die Nervenimpulse ganz aus, beispielsweise im Fall einer Querschnittslähmung, verkümmern die Muskelzellen hingegen und sterben ab. Die Muskeldistrophie, also der Muskelschwund, geht auf defekte Eiweiße in den Muskeln zurück. Dabei kann jede der 400 Eiweißformen in den Muskeln betroffen sein, entsprechend gibt es 400 Varianten von Muskelschwund. Die Eiweißdefekte sind genetisch bedingt.

7. Lässt sich Muskelschwund heilen?

Muskelschwund ist bislang nicht therapierbar und auch durch das beste Training nicht aufzuhalten. Allerdings macht die Forschung große Fortschritte. Inzwischen wissen die Wissenschaftler recht genau, welche Gene für welchen Muskeleiweiß-Defekt zuständig sind. Beim besonders häufig auftretenden Typ Duchenne haben Forscher bereits ein Molekül entwickelt, mit dem das veränderte Gen repariert werden können soll. Das Verfahren wird derzeit in den USA in einer klinischen Studie an Duchenne-Patienten erprobt. Hoffnung besteht auch für Dysferlin-Patienten, die vor Ausbruch der Krankheit oft auffallend sportlich waren. Eine 2007 an der Berliner Charité eingerichtete interdisziplinäre Forschungsgruppe geht davon aus, dass Dysferlin in zehn Jahren behandelbar sein wird.

Wissenschaftliche Beratung: Prof. Simone Spuler, Charité Berlin und Dr. Axel Knicker, Deutsche Sporthochschule Köln