Psst! Nicht weitersagen!

MENSCHEN - DAS MAGAZIN, 3/2010

Geheimnisse hat jeder. Und vermutlich hat auch schon jeder mal eines verraten. Ist das gut oder schlecht? Egal wie man es sieht - Geheimnisse sind vor allem eines: außerordentlich vielschichtig.

     Eines Morgens, nachdem die Kaffeetassen abgespült waren, rief mich Frank in sein Privatkontor und schloss die Tür hinter mir. Er hielt meinen Blick fest, sah mich mit seinen sanften braunen Augen unverwandt, fast durchdringend an. „Ich muss Ihnen ein Geheimnis anvertrauen, Miep“, begann er.

      Ich lauschte.

     „Edith, Margot, Anne und ich planen unterzutauchen – uns zu verstecken.“  Er wartete, bis ich das erfasst hatte. (…) „Sie kennen doch die leerstehenden Räume im Hinterhaus, wo mein Freund Lewin, bis er fortging eine Zeit lang sein Labor hatte?" (…) Er hielt kurz inne. „Sie werden wie gewohnt weiterarbeiten, und das in unserer unmittelbaren Nähe. Deshalb muss ich wissen, ob Sie irgendwelche Einwände haben?“

     Nein, keine.

     Er holt tief Luft und fuhr fort: „Sind Sie bereit, Miep, die Verantwortung zu übernehmen und uns zu versorgen, solange wir untergetaucht sind?“

     „Selbstverständlich.“

(aus: Miep Gies, "Meine Zeit mit Anne Frank")

Bei dem Geheimnis, das der jüdische Fabrikant Otto Frank seiner Angestellten Miep Gies an diesem Sommermorgen im Jahr 1942 anvertraut, geht es um Leben und Tod. Überall im besetzten Amsterdam treiben die Nazis die jüdischen Bürger zusammen. Gerüchte von Konzentrationslagern machen die Runde. Verfolgten zu helfen, steht unter Strafe. Otto Frank und Miep Gies wissen, was das heißt: Gefängnis und Folter. „Ein- oder zweimal im Leben gibt es einen Blickwechsel zwischen zwei Menschen, der sich mit Worten nicht beschreiben lässt“, schreibt Miep Gies 40 Jahre später in ihren Erinnerungen. „Einen solchen Blick tauschten wir.“

Das 1987 erschienene Buch „Meine Zeit mit Anne Frank“ zeigt wie kaum ein anderes Dokument, welch große Bedeutung Geheimnisse im Leben von Menschen haben. Das gilt besonders für das Leben in einer Diktatur. Wer ein Geheimnis wahren kann, bricht die Macht der Mächtigen ein Stück weit und erhält sich ein winziges Stück Freiheit und Würde erhalten. Totalitäre Regime belohnen nicht zuletzt deshalb Bespitzelung und Verrat. Im besetzten Amsterdam gab es Geld für jedes den Nazis zugetragene Versteck. In der DDR lockte die Stasi mit Karrieren und sozialer Anerkennung.

Aber auch in freien und demokratischen Gesellschaften sind Geheimnisse überlebenswichtig: „Wenn wir keine Geheimnisse haben könnten, wären wir mehr Marionetten denn selbstständige Persönlichkeiten. Geheimnisse schützen unseren Lebensraum vor dem Zutritt Unbefugter“, sagt Ursula Nuber, Psychologin und stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift „Psychologie heute“.

Nicht von ungefähr beobachten Bürgerrechtler die zunehmenden Angriffe auf das Fernmelde- und Bankgeheimnis mit Sorge. Zumal auch der Staat einiges vor seinen Bürgern verbirgt. Papiere, denen die Bundesregierung den roten Stempel „streng geheim“ oder „geheim“ aufgedrückt hat, bekommen nur wenige zu Gesicht. Noch exklusiver ist der Kreis derjenigen, die „Cosmic Top Secret“-Papiere der Nato lesen dürfen. Auch Sitzungen des Verteidigungs-, des Auswärtigen Ausschusses sowie des Parlamentarischen Kontrollgremiums sind geheim. Lediglich ihrem Fraktionsvorsitzenden dürfen deren Mitglieder berichten. Wer diese Regel bricht, verliert seine Immunität als Abgeordneter und muss mit einer Strafanzeige rechnen.

In manchen Fällen ist diese Schweigepflicht eine große Bürde. „Es gibt immer wieder Dinge, mit denen man abends nach Hause geht und über die man gern reden würde“, sagt Omid Nouripour, verteidigungspolitischer Sprecher von Bündnis90/Die Grünen. Auch falsche Medienberichte zu korrigieren, ist ihm nicht möglich. Andererseits behält der aus dem Iran stammende Politiker Wissen, das weitergeben darf, oft freiwillig für sich. Dazu gehören vor allem Berichte und Fotos aus dem Menschenrechtsausschuss, dem er ebenfalls angehört. „Das kann man niemandem zumuten“, lautet seine Begründung.

Die Psychologin Ursula Nuber nennt diese Form von Geheimnissen „altruistische Geheimnisse“. Dabei muss der Geheimnisträger abschätzen, was belastender ist: die Wahrheit oder das Nicht-Wissen. Auch die meisten Familiengeheimnisse entstehen so. „Ein Familiensystem hat ein originäres Interesse, sich zu erhalten. Wenn eine Familie etwas zum Geheimnis macht, dann tut sie das, um gesund zu bleiben“, sagt die Berliner Familien- und Traumatherapeutin Cornelia Emunds.

Die Inhalte hängen stark von den gesellschaftlichen Werten und Ideologien ab. Im Dritten Reich wurde Kindern verboten zu erzählen, dass in der Familie einen Feindsender gehört oder über Hitler geschimpft wurde. Ein typisches Familiengeheimnis der Nachkriegszeit wiederum war die Nazivergangenheit von Familienmitgliedern. Mit dem Ende der DDR breiteten viele Familien über die Stasi-Zugehörigkeit den berühmten Mantel des Schweigens. Ein uneheliches Kind hingegen muss heute nicht mehr versteckt werden.

Andere Familiengeheimnisse sind unabhängig von der Zeit. Dazu zählen Straftaten von Familienmitgliedern, Geschäftspleiten, Suchterkrankungen, soziale Abstiege, gestorbene (Zwillings)Geschwister, Fehl- und Totgeburten, „weggelaufene“ Mütter und Väter und Behinderungen. Auch traumatische Erlebnisse werden von Familienmitgliedern oft zugunsten des Systems gehütet, ebenso wie stigmatisierte Krankheiten. „Es gibt tausend Gründe für Familien, ein Geheimnis zu prägen“, sagt Familientherapeutin Cornelia Emunds. „Sich vorzunehmen: `In unserer Familie gibt es keine Geheimnisse´, funktioniert nicht.“

Aber auch vollkommen Triviales wird geheim gehalten, teilweise mit enormem Aufwand. Beispielsweise in den Geheimgesellschaften, die im 18. Jahrhundert ihre Blütezeit erlebten. Bei den Freimaurern, Rosenkreuzern und Illuminaten wimmelte es nur so von geheimen Symbolen, geheimen Riten, geheimen Schwüren, geheimen Hierarchien, geheimen Kostümen und geheimen Zielen. Etwas Bedeutendes zu verbergen hatten sie dabei nicht.

Der Begründer der Soziologie, Georg Simmel, leitete Anfang des 20. Jahrhunderts daraus ab, dass in manchen Fällen die Form des Geheimnisses wichtiger ist als der Inhalt. Die moderne Hirn- und Verhaltensforschung bestätigt Simmels Vermutung. Der Freiburger Neubiologe Joachim Bauer beschreibt in seinem Buch „Prinzip Menschlichkeit“, dass das Teilen von Geheimnissen Glücksgefühle auslöst. Bewirkt wird dies durch eine Ausschüttung des Botenstoffs Oxytozin, der dafür sorgt, dass der Mensch die eingegangene Beziehung rückwirkend stabilisiert.

Gleichzeitig ist der Mensch darauf gepolt, Geheimnisse zu erspüren und zu lüften. Dieses Verhalten wiederum hat mit dem Botenstoff Dopamin zu tun. Experimente haben gezeigt, dass das Gehirn die Dopamin-Ausschüttung steigert, wenn der Mensch mit einer ungewissen Situation konfrontiert ist. Wie Oxytozin löst auch Dopamin ein positives Gefühl aus: Es signalisiert, dass der Mensch eine Belohnung zu erwarten hat, wenn er sich in die geheimnisvolle Situation begibt. Ergo, marschiert er los, stellt Fragen, greift zum Krimi oder – wie die Archäologen – zum Spaten. Je höher der persönliche Dopamin-Spiegel eines Menschen ist, umso neugieriger ist er.

Auch der jungen Anne Frank ließen Geheimnisse keine Ruhe. „Anne hatte das Zeug zu einem hervorragenden Detektiv. Sie spürte, wenn ihr irgendetwas verheimlicht wurde; sie bohrte und trieb mich in die Enge, brachte mich durch unentwegtes Anstarren aus der Fassung, bis ich mich genau das offenbaren hörte, was ich zu verschweigen beschlossen hatte“, erinnert sich Miep Gies. So sickerten grausame Fakten zu den Untergetauchten durch, und als ihr Versteck nach zwei Jahren entdeckt wurde, wussten sie sehr genau, was sie erwartet.

Was die Untergetauchten nicht wussten, war, dass ihre Freundin Miep und ihr Mann Jan auch einen von den Nazis gesuchten Studenten versteckt hielten – in ihrer Wohnung. Auch, dass der als Stadtfürsorger arbeitende Jan Gies im Widerstand aktiv war, erfuhr fast niemand. Selbst seine Frau und seinen nach dem Krieg geborenen Sohn Paul weihte er nur in Ansätzen ein. „Wenn Paul und ich versuchten, Jan auf seine Kriegserlebnisse anzusprechen, sagte er nur: `Später, jetzt nicht.´“

Zu entscheiden, ob es richtig oder falsch ist, ein Geheimnis mit in den Tod zu nehmen, fällt schwer. „Man kann sich nur einmal outen. Es hinterlässt eine Leere“, gibt der Leiter des Bremer Instituts für Hirnforschung, Gerhard Roth, zu Bedenken. Auch die Familien- und Traumatherapeutin Cornelia Emunds rät, gut zu prüfen, ob die Wahrheit hilfreich oder zerstörerisch ist. „Das Öffnen von Familiengeheimnissen kann zur Zerrüttung führen.“

Andererseits belasten Geheimnisse auch – egal, ob sie direkt oder nur in Andeutungen weitergeben werden. Familiengeheimnisse können sogar das Leben von Enkeln und Urenkeln beeinträchtigen. Viele Nachkriegsgeborene sind auf diese Weise noch heute mit dem Krieg verstrickt. Sie fühlen sich auf unbestimmte Art schuldig, haben Ängste, die sie sich nicht erklären können oder treten wie ferngelenkt in die Fußstapfen desjenigen, um den das Geheimnis gemacht wird. „Ein Geheimnis ist düster, wenn jemand leidet und nach Erklärungen sucht und dann an Mauern stößt und an seiner Wahrnehmung zweifelt“, sagt Cornelia Emunds.

Als besonders quälend erlebt sie auch Geheimnisse, die die Herkunft eines Menschen betreffen. „Wenn ein Mensch nicht an seine Wurzel kommt, ist das sehr schwer zu bewältigen.“ Möglicherweise ist dies ein Grund, warum die Geheimnisse der Menschheitsgeschichte so viele faszinieren. Als Forscher des Leipziger Max-Planck-Instituts im Frühjahr bekannt gaben, dass sie einen bislang unbekannten Urmenschen entdeckt hatten, ging die Meldung um die ganze Welt. „Das ist unsere eigene Vorgeschichte. Das betrifft uns alle“, erklärt die Frankfurter Paläoanthropologin und Paläobiologin Christine Hertler, die versucht, das Geheimnis um die Migrationswege früher Menschen zu lüften.

Dazu graben die Forscherteams auf der tausende Quadratkilometer großen Forschungsstelle „Roceeh“ in Tansania in Erdschichten, die bis zu einer Million Jahre alt sind. Gesucht wird „alles Mögliche: Knochen, Zähne, Werkzeuge“. Dank der modernen Technik konnten in den vergangenen Jahren viele vermeintliche Geheimnisse aufgeklärt werden. Anderes liegt noch im Dunkeln, beispielsweise die Frage, warum sich die Menschen vor 2,5 Millionen Jahren in Bewegung setzten. Auch über die Sozialstruktur der frühen Gesellschaften weiß man wenig.

Hinter jedem gelüfteten Geheimnis verbirgt sich ein Neues. Und das, meint Christine Hertler, sei auch gut so. „Ich fänd’s langweilig, wenn wir alles wüssten. Es muss auch unergründbare Dinge geben.“

Paul Gies meint, dass er und seine Mutter sich hätten intensiver darum bemühen müssen, Jan das Geheimnis um seine Zeit im Widerstand zu entlocken. Miep Gies stimmte ihm rückblickend zu. Und was ist mit der Veröffentlichung von Annes doch eigentlich geheimem Tagebuch? Die Untergetauchten wussten, dass sie den Alltag im Hinterhaus dokumentierte und wahrscheinlich war auch das Versteck, eine braune Aktentasche, allen bekannt. Trotzdem scheint Annes Wunsch nach Geheimhaltung respektiert worden zu sein. Auch Otto Frank, der den Holocaust als einziger der Untergetauchten überlebte, zögerte lange mit der Freigabe. Schließlich beugte er sich dem Druck eines holländischen Historikers, der Auszüge aus dem Tagebuch kannte und es als Pflicht ansah, Annes Aufzeichnungen zu veröffentlichen.

Für die Frau des ebenfalls im Hinterhaus untergetauchten Zahnarztes war die Veröffentlichung schmerzlich. Das wenig schmeichelhafte Porträt, das Anne von ihrem Mann gezeichnet hatte und das in Theaterstücken und Filmen noch weiter ausgemalt wurde, hatte ihr das Herz gebrochen. Das Bild konnte erst korrigiert werden, als auf einem Flohmarkt die Liebesbriefe auftauchten, die Miep Gies zwischen den Eheleuten hin und her getragen hatte. Auch sie geheime Dokumente.

Ein Geheimnis hingegen wird wohl ewig ungelüftet bleiben. Wer hat die Untergetauchten an die Gestapo verraten? Die Ermittlungen der niederländischen Polizei nach dem Krieg liefen ins Leere. Der Verantwortliche der Sicherheitspolizei, nunmehr Polizeibeamter in Wien, gab an, sich nicht mehr zu erinnern. Es habe so viele Denunzianten gegeben in diesen Jahren. „Meine letzten Worte zum Verrat sind die folgenden“, schreibt Miep Gies: „Wir werden niemals Gewissheit haben.“